Peter Gabriel über sein neues Album »i/o«: »Merken Sie, dass ich kein Nihilist bin?« (2024)

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Peter Gabriel über sein neues Album »i/o«: »Merken Sie, dass ich kein Nihilist bin?« (1)

SPIEGEL: Mr Gabriel, zwischen »Up« von 2002 und Ihrem aktuellen Album »i/o« liegen beinahe zwei Jahrzehnte. Hat es denn zwei Jahrzehnte gebraucht?

Gabriel: Ich habe in dieser Zeit auch versucht, ein normales Leben zu führen und nicht nur ein professioneller Musiker zu sein. Trotzdem wurde immer Musik erzeugt, kleine Ideen hier und da. Aber nichts, was ich als Album hätte veröffentlichen können. Vorausgesetzt, es rafft mich nicht dahin, werde ich für das nächste Album aber keine zwanzig Jahre brauchen. Gerade habe ich, wenn Sie so wollen, sogar zwei verschiedene Gerichte im Ofen.

SPIEGEL: Sie denken aber noch immer im Album-Format, oder?

Gabriel: Ja! Als Kind mochte ich es, wenn mir jemand eine Geschichte erzählte. Meine Lieblingsplatten konnte ich auflegen und mich zurücklehnen.

SPIEGEL: Das klingt altmodisch.

Peter Gabriel über sein neues Album »i/o«: »Merken Sie, dass ich kein Nihilist bin?« (2)

Gabriel: Ist es auch. Ich weiß, dass heute gern einzelne Songs oder sogar nur Teile eines Songs gehört werden. Mir kommt das so vor, als schaue man sich nur Clips oder Szenen von einem Film an. Dabei gibt es diesen Film! Und den würde ich noch immer gern sehen.

SPIEGEL: Ist es denn für einen Künstler nicht wichtig, seine Ideen auch zu veröffentlichen?

Gabriel: Eine Idee hat noch andere Auswirkungen als den Wunsch, sie in die Welt zu tragen. Mir ist inzwischen der Prozess wichtiger als das Produkt.

SPIEGEL: Ist es wichtig, wo Sie an Musik arbeiten?

Gabriel: In gewisser Weise schon, ja. Wenn eine Idee kommt, dann muss man ihr die Tür öffnen, die Umgebung kann aber die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sich etwas Gutes zeigen möchte. Ich bin eigentlich ein Junge vom Land und auf einem Bauernhof aufgewachsen. In meiner Familie aber gibt es Leute, die zur Schule müssen, in die Universität. Deshalb bin ich gerade in London – und dort ein Stadtmensch.

SPIEGEL: »i/o« handelt von Sterblichkeit, Trauer – ist aber auch sehr optimistisch, beinahe heiter im Klang. Wo kommt das her?

Gabriel: Vielleicht von meinen Eltern. Mein Vater war Erfinder, meine Mutter hat sich leidenschaftlich für Tiere und Musik interessiert. Ich glaube, Optimisten bekommen mehr erledigt. Pessimisten sind dagegen mehr auf Tuchfühlung mit der Wirklichkeit. Ich versuche also, ein realistischer Optimist zu sein.

»Ich bin ein passionierter Anhänger der Idee, dass Technik die meisten unserer Probleme lösen kann.«

SPIEGEL: Klimakrise, künstliche Intelligenz – wir haben es mit existenziellen Bedrohungen zu tun.

Gabriel: Genau. Entweder schließe ich mich ein und tue so, als gäbe es das alles nicht. Oder ich werde pessimistisch und denke, es ist sowieso alles zu spät. Beide Positionen führen in diesem Fall aber zu überhaupt keinem Ziel. Optimismus gibt mir einen Sinn für den Kurs, den wir einschlagen sollten – ohne Realismus ist das aber alles nur Tagträumerei.

SPIEGEL: Sie sind 73 Jahre alt. Sie könnten ebenso gut …

Gabriel: … ein »grumpy old man« sein? Stimmt, das könnte ich. Mir kommt es eher so vor, als wäre ich ein naives Kind. Ich glaube, es gibt mehr Gutes als Schlechtes in der Welt. Egal, wohin ich gehe, erwarte ich, mit Freundlichkeit empfangen zu werden. Ja, es gibt entsetzliche Probleme in der Welt. Der Nahe Osten ist da ein Klassiker. Andererseits sind noch nie weniger Menschen an Krieg, Hunger oder Krankheiten gestorben als heute. Es gibt also auch Sachen, die man feiern könnte.

SPIEGEL: Sie haben schon immer den technischen Fortschritt begrüßt, oder?

Gabriel: Ja, was vielleicht wieder an meinem Vater lag. Als Erfinder hatte er einen starken Glauben daran, dass Technik zum Wohl der Menschheit eingesetzt werden kann. Das glaube ich auch. Wir können sie gegeneinander richten oder zu unserem Nutzen verwenden. Ich bin ein passionierter Anhänger der Idee, dass Technik die meisten unserer Probleme lösen kann.

SPIEGEL: Haben Sie ein Beispiel?

Gabriel: Es gibt schon heute Experimente, wie sich eine menschliche Zelle auf zwanzig Prozent ihres tatsächlichen Alters reduzieren lässt. In Texas hat man bereits MRT-Untersuchungen in Text umgewandelt. In Berkeley haben Wissenschaftler einen Song von Pink Floyd aus Gehirnmustern in Noten übersetzt. Verbinden Sie das mit den Fortschritten in der KI – und eines Tages werden Sie und ich so etwas bei uns zu Hause haben. Wir werden dreidimensionale Objekte oder klangliche Umgebungen in wenigen Sekunden erzeugen können. Die Grenze zwischen Gedanken und eigentlicher Schöpfung wird verschwinden. Wir denken, also ist es.

SPIEGEL: Hm.

Gabriel: Das könnte bedrohlich sein, aber auch aufregend. Es liegt ganz an uns, wie wir darauf reagieren. Wir sollten alle Zugang zu einer Technologie haben, die uns sehr bald und sehr heftig treffen wird.

SPIEGEL: Sie haben jeden Song von »i/o« immer zu Vollmond veröffentlicht. Das klingt nach einem eher traditionellen, um nicht zu sagen, archaischen Ansatz – wieein sehr alter Rhythmus. Ist das kein Widerspruch?

Gabriel: Nein, für mich sind diese »sehr alten Rhythmen«, wie Sie sagen, sehr wichtig. Die Zukunft, an die ich glaube, hat eine Einheit aus Technologie und Natur zu sein. Als ich aufwuchs, kam alles Interessante aus Computern, aus Programmen und Algorithmen. Für unsere Kinder ist es schon integrativer, Biotechnologie, die Fusion aus Natur und Technik. Deshalb ist es eine gute Sache, einmal im Monat daran erinnert zu werden, in den Himmel zu schauen.

SPIEGEL: Warum genau?

Gabriel: Weil wir Affen sind, die vergessen haben, woher sie kommen.

»Wir begreifen gerade, wie leicht wir zu manipulieren sind.«

SPIEGEL: In einem Song singen Sie: »I’m a part of everything«, was im Kern einer Grundweisheit aller großen Kulturen entspricht.

Gabriel: Es gibt viele spirituelle Traditionen, die fundamental auf dieser Idee aufbauen. Ich bin Atheist, aber ich glaube, dass uns Religionen dennoch viel lehren können. Wenn sie die Gehirnströme während einer Meditation messen, können Sie förmlich sehen, wie da im Kopf ein neuer Pfad entsteht. Das Gleiche geschieht, wenn Sie stundenlang TikTok-Videos schauen. Es gibt in unserem Gehirn also so etwas wie eine Landkarte unseres Lebens, gezeichnet von unseren Erfahrungen. Ergibt das irgendeinen Sinn?

SPIEGEL: Sie sprechen von der spirituellen und neurobiologischen Wirkung von Kunst.

Gabriel: Musik hat eine spirituelle Wirkung, genau, und die ist eben wissenschaftlich nachweisbar. Klang ist eine bewährte Praxis, Menschen auf den Pfad zu führen, auf dem man sie gern haben möchte.

SPIEGEL: Haben Sie das mit diesem Album versucht? Menschen auf einen Pfad zu führen?

Gabriel: Ich bin nicht sicher, ob es ein Boot oder ein Flugzeug ist, das die Menschen an ein Ziel führt. Vielleicht ist das Album eine Hand, die immerhin den Vorhang teilt und eine Ahnung davon vermittelt, was auf der anderen Seite liegen könne. Merken Sie, dass ich kein Nihilist bin?

SPIEGEL: Sie könnten auch ein Manipulator sein, der den Klang für seine Zwecke einsetzt.

Gabriel: Stimmt. Insofern wäre meine Musik sogar politisch. Wir begreifen gerade, wie leicht wir zu manipulieren sind. Es müssen nur ein paar Knöpfe in der Psyche gedrückt werden, und die Menschen entscheiden sich auf diese oder jene Weise. Demokratien sind darauf angelegt, sich alle vier oder fünf Jahre zu erneuern. Das ändert sich gerade. Wir müssen lernen, zugleich in langen wie in sehr kurzen Zeiträumen zu denken. Und unsere politischen Systeme neu ausrichten, um damit zurechtzukommen.

SPIEGEL: Und dazu kann Musik beitragen?

Gabriel: Musiker liefern die Tabletten und die Konsumenten können entscheiden, wann sie welche Pille nehmen wollen. In einer autokratischen Gesellschaft entscheiden die Mächtigen, was Sie einnehmen dürfen – und wann. Wir Musiker liefern dagegen ein Menü, aus dem gewählt werden kann, einen emotionalen Werkzeugkasten.

SPIEGEL: Wann wissen Sie als Künstler, dass das Werkzeug fertig und tauglich ist?

Gabriel: Das ist ein schwieriger Punkt für mich. Ich neige dazu, meine Songs übermäßig zu dekorieren. Deshalb habe ich die finale Produktion diesmal aus der Hand gegeben. Und »i/o« erscheint in zwei Versionen.

SPIEGEL: Sie veröffentlichen, wie schon bei früheren Alben, eine visuelle Begleitung der Musik – diesmal von Künstlern wie Ai Weiwei oder Nick Cave. Warum?

Gabriel: Das Visuelle verstärkt das Akustische. Es ist wie bei einem Film, der weniger stark wirkt, wenn Sie ihn ohne Musik hören.

SPIEGEL: Was ist für Sie Erfolg?

Gabriel: Da bin ich wieder auf die alten Griechen zurückgeworfen: Erkenne dich selbst! Das Altern hat nur wenige Vorteile, aber einer davon ist Selbsterkenntnis. Ich weiß ein bisschen besser, wer ich bin. Und ich habe ein bisschen weniger Angst, auch mal Nein zu sagen. Wir haben immer Gelegenheiten, in denen wir die mutige oder die vorsichtige Wahl treffen können. Manchmal, nicht immer, ist die mutige Entscheidung nötig – einfach, um zu sehen, wohin sie einen führen wird.

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SPIEGEL: Als Künstler versuchen Sie das?

Gabriel: Ja. Ich will nicht wiederholen, was ich schon einmal getan habe. Im Grunde ist keine Entscheidung falsch, weil ich immer daraus lernen kann. Das ist es, was uns das Leben unausweichlich lehrt. Ich würde sagen, das ist ein Erfolg.

SPIEGEL: Es gibt eine ganze Reihe von Gruppen, die ausschließlich alte Platten und Konzerte von Genesis nachspielt – Ihr altes Leben also, Ihre alte Kunst. Wie stehen Sie zu dieser Szene?

Gabriel: Ich weiß, dass es sie gibt. Einmal habe ich mir ein Konzert von Musical Box (eine Genesis-Tribute-Band, Anm. d. Red.) angeschaut. Diese Musiker haben die Royal Albert Hall ausverkauft, was nicht frei von Ironie ist: Als wir mit Genesis das Album »Musical Box« machten, hätten wir davon nicht einmal träumen können. Sie verdienen also mehr damit, als es uns damals vergönnt war. Mir gefällt aber, wie ernst sie es meinen und wie hart sie daran arbeiten, es richtigzumachen.

SPIEGEL: Nehmen Sie Ihre eigenen Siebzigerjahre noch ernst?

Gabriel: Teilweise. Es gibt Sachen, in die ich mein Herz und meine Seele gesteckt habe, die mich noch heute berühren. Als ich Genesis verlassen habe, ist die Gruppe in eine ganz andere Richtung gegangen. Sie wurde zu einem ganz anderen Geschöpf. Dieses Geschöpf hatte aber noch immer viel, das ich wiedererkennen konnte.

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